Das vermeintlich Böse wird immer noch gequält

Eines der kontroversiellsten sozialpsychologischen Experimente der Geschichte wurde im Jahre 2008 an der Santa Clara University wiederholt: das nach seinem Erfinder Stanley Milgram benannte “Milgram-Experiment” (1963), in welchem dieser unter dem Eindruck des Eichmann-Prozesses untersuchen wollte, warum Menschen im Dritten Reich im bekannten extremen Ausmaß Autoritätshörigkeit gezeigt hatten, sogar gegen ihr eigenes Gewissen.

Hierbei hatten die Versuchspersonen (allesamt “Durchschnittsbürger” aus unterschiedlichen sozialen Schichten, rekrutiert direkt auf der Straße, in Kaufhäusern, Bibliotheken, an Universitäten etc.) unter dem Vorwand, bei einer Untersuchung zu helfen, welche den Einfluß von Bestrafung auf die Lernfähigkeit erforscht, die Rolle eines Lehrers einzunehmen, welche einen (von einem Studenten gespielten) “Schüler” vermeintlich mit immer stärkeren, schmerzhaften Elektroschocks zu traktieren hatte, wenn dieser einen Fehler machte. Zögerte der “Lehrer”, wurde er vom als ärztliche Autorität auftretenden “Versuchsleiter” aufgefordert, weiter zu machen. Der “Schüler” stöhnte ab 70 Volt, ab 120 Volt schrie er vor Schmerzen, ab 140 Volt forderte er ein Ende des Experiments, ab 200 Volt schrie er noch lauter und verstummte schließlich ab 330 Volt, was aber die jeweiligen “Lehrer” schon im ersten von Milgram veröffentlichten Test nicht davon abhielt, zu über 60 Prozent die Schocks bis zum Anschlag auf 450 Volt zu verstärken. Waren hingegen zwei Versuchsleiter vorhanden, die sich widersprachen, brachen einige Versuchspersonen, welche die “Lehrer” spielten, ab. Um den Versuchspersonen zu suggerieren, dass die Elektroschocks real sind, hatten sie vor dem Testbeginn einen Schlag mit 15 Volt erhalten.

Gut 50 Jahre nach dem ersten Versuch zeigt sich also: wie schon damals sind mehr als 70% der Menschen im vermeintlichen “Ernstfall” bereit, andere zu quälen und zu foltern – nicht unbedingt, weil sie Lust daran finden würden, sondern weil sie einer Autorität gehorchen, die dies erlaubt (der “Versuchsleiter” teilte ihnen mit, daß er für alle etwaigen Folgen die “Verantwortung übernehmen” würde) und als “notwendig” erscheinen lässt. Das menschliche Gewissen erweist sich dabei als schwach, die empfundene “Pflicht” ist stärker. Signifikante Unterschiede zwischen Männern und Frauen sowie im Hinblick auf andere Differenzen wie Bildung oder ethnische Abstammung konnte der untersuchende Psychologe Jerry M. Burger nicht feststellen. Die Bereitschaft, andere unter den erwähnten Prämissen auch in hohem Maße zu quälen, war umso höher, desto geringer die anfänglichen Konsequenzen waren, je länger also anfänglich nur eine niedrige Bestrafung erteilt werden mußte. So funktionieren auch Sekten: die hohe Anzahl der Teilnehmer am Massen-Suizid in Jonestown erklärte Burger damit, daß die Anhänger des Sektenführers Jim Jones anfänglich nur kleine Geldmengen und wenig Zeit beizutragen hatten, und ihnen erst im Laufe der Zeit immer mehr Verpflichtungsbereitschaft abverlangt wurde.
Was wir daraus lernen können? Solange Gesellschaften einigermaßen friedlich und ausgeglichen sind, mögen die Schrecken sinken, sobald jedoch die Parole heißt: Wir gegen die Anderen, wie sie von verantwortungslosen Politikern ausgegeben wird, kann jeder zum Schlächter werden – hier haben sich offenbar weder unsere Gesellschaft, noch wir als Menschen weiterentwickelt, und der Weg zum wirklich mündigen Menschen scheint noch ein weiter zu sein.

Die Versuchsergebnisse werden in der Januar-Ausgabe des ‘American Psychologist’ publiziert.

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Richard L. Fellner, DSP, MSc.

Psychotherapeut, Hypnotherapeut, Sexualtherapeut, Paartherapeut



1 reply

Gothika Reply

Bedauerlich, dass es nötig ist solch ein Experiment zu wiederholen. Ich dachte, diese Zeiten seien vorbei. In der Öffentlichkeit erwecken solche Experimente sicherlich keinen guten Eindruck…

Und ja, der Mensch ist in der Lage, notfalls – wenn es (vermeintlich) darauf ankommt – seine eigenen Artgenossen auszurotten. Wenn es heißt: du oder ich. Selbst dann, wenn es ihm langfristig schadet und er sich damit selbst die Resourcen raubt. Doch warum? Wie kann sich solch ein Egoismus so hartnäckig halten? Es ist kein Phänomen der Neuzeit, irgendwas wird sich die Evolution – sofern man sie mal metaphorisch personifzieren darf – dabei schon gedacht haben. Es ist vermutlich und bedauerlicherweise ein nützlicher Selbsterhaltungs- und Überlebensinstinkt, ein genetisches Programm, dass dem Überleben der Menschheit oder auch nur dem “egotischen Gen” gemäß Dawkin dient.

Dies empfände ich als eine spannendere Fragestellung statt der bloßen Reproduktion eines alten Experimentes. Dass es so ist, das sagt uns schon der pure Menschenverstand: Mutter Natur (und damit auch der Mensch) ist grausam. Oder kann es zumindest sein. Oder dazu gemacht werden. Das ist kein Geheimnis. Aber warum ist dies so? Welche Vor – und Nachteile haben die 30%ig, die sich nicht durch pure Autorität ermutigen ließen andere zu quälen? Ist es ein sinnvolles Gleichgewicht? Eine frequenzabhängige Selektion, so wie im berühmten Tauben – und Falkenbeispiel? Wie wäre es damit, das Leben der willkürlich gewählten Versuchsteilnehmer einer genaueren Betrachtung zu unterziehen z.B. hinsichtlich Fragen der Sozialkompetenz, um herauszufinden, wie sich die 30% von den anderen 70% unterscheiden?

Und in der Zwischenzeit sollte man sich möglicherweise mit etwas Galgenhumor daran erfreuen, dass nicht ALLE Menschen so sind, sondern dass es immerhin 30% löbliche Ausnahmen gibt. Die Welt ist also noch nicht ganz verloren.
Aber was bringt es gutmütig zu sein, wenn man dadurch zu einem Außenseiter wird, an Ansehen (z.B. vor den Autoritätspersonen) verliert und dadurch keine Paarungsgenoßen findet und somit die guten Eigenschaften zum Aussterben verdammt sind?

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15.03.21